Als an einem regnerischen Herbstabend zwei Polizisten in Begleitung von zwei Zivilisten vor meiner Haustüre standen, ahnte ich, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.
„Es tut uns sehr leid. Können wir jemanden für Sie anrufen?“
Ich nahm die Nachricht der beiden Polizisten wie in Trance entgegen.
Mein Mann Manfred war auf dem Heimweg von der Arbeit mit dem Auto verunglückt. Aus noch ungeklärter Ursache war er von der Landstraße abgekommen und gegen einen Baum geprallt.
„Manfred ist tot? Das kann doch nicht sein!“
„Haben Sie jemanden, den wir für Sie anrufen können? Sie sollten jetzt nicht alleine sein.“
Entsetzt schlug ich die Hände vors Gesicht. Das konnte doch alles nur ein böser Traum sein!
Heute früh hatten Manfred und ich uns noch voneinander verabschiedet und Pläne fürs Wochenende gemacht. Und jetzt sollte er plötzlich tot sein? Wie betäubt hörte ich mich selbst reden. Unzusammenhängendes Zeug, ich weiß heute gar nicht mehr, was damals alles gesprochen wurde. Die ganze Situation kam mir vor wie aus einem Film, meine Gefühle waren wie eingefroren und meine Wahrnehmung ausgeschaltet. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen und war dem, was da gerade passierte, vollkommen hilflos ausgeliefert.
Deshalb habe ich auch erst nach und nach begriffen, wer die beiden Leute waren, die die Polizeibeamten begleitet hatten. Es waren zwei psychologisch geschulte Helfer, Leute vom Kriseninterventionsteam, das die Polizei beim Überbringen schlechter Nachrichten nach schweren Autounfällen oder sonstigen drastischen Schicksalsschlägen unterstützt.
„Wir sind für Sie da und lassen Sie nicht alleine.“
Voller Mitgefühl schaute mich eine der Helferinnen an. Aber ich nahm alles nur wie durch Watte war und hatte das Gefühl, gar nicht richtig anwesend zu sein. Verzweifelt versuchte ich, das Unbegreifliche zu fassen.
Heute glaube ich, dass viele Menschen in solchen Situationen mit einer Art natürlicher Betäubung reagieren. Anders kann ich mir mein Verhalten in den Wochen nach Manfreds Tod nicht erklären. Ich war wie auf Autopilot, habe das Begräbnis organisiert, Familie und Freunde informiert und den Termin beim Notar überstanden. Erst nach und nach sind die Gefühle us mir herausgebrochen. Alles, was ich zuerst nicht gespürt habe, ist plötzlich voller Wucht auf mich eingestürzt. Trauer und Schmerz haben sich mit Wut und Ohnmacht abgewechselt. An manchen Tagen war ich ruhelos und habe mich in alle möglichen Aktivitäten gestürzt, in anderen Momenten habe ich mich daheim verkrochen und so lange geweint, bis ich den Schmerz körperlich spüren konnte. Mein ganzes Leben war aus dem Gleichgewicht geraten! Phasenweise habe ich ewig geschlafen und dann wieder nächtelang kein Auge zugemacht. In manchen Nächten hatte ich stundenlang das Radio an, weil ich die Stille in der Wohnung nicht ertragen konnte. Und ich habe Dinge getan, die ich vorher gar nicht von mir kannte. Ich habe wahllos Essen in mich hineingestopft und dann wieder tagelang kaum einen Bissen herunter bekommen. Manchmal habe ich von einem Moment auf den anderen haltlos zu weinen begonnen und mich dann wieder schlecht gefühlt, wenn ich einen kurzen Augenblick lang vergessen hatte, dass Manfred tot ist.
Und ich habe mit meinem Schicksal gehadert. Ich war meinem Mann böse, dass er sich „einfach so aus dem Staub gemacht hat“, habe imaginäre Gespräche mit ihm geführt und ihm Vorwürfe gemacht, dass er beim Autofahren nicht besser aufgepasst hat. Ich habe Menschen, die mir helfen wollten, vor den Kopf gestoßen. Ich war gereizt, wenn mir jemand sein Beileid aussprechen wollte, konnte Mitgefühl und Anteilnahme nur schwer ertragen. Meine Gedanken sind nur noch um meinen Verlust gekreist und ich habe andere beneidet, die ihren Partner noch hatten und weiterleben konnten, als ob nichts geschehen wäre. Wo doch in meinem Leben nichts mehr so wie früher war! Und nichts mehr jemals so sein würde, wie es einmal gewesen war. Warum musste ausgerechnet Manfred sterben? Ein Mensch, der noch mitten im Leben gestanden hatte!
Natürlich hatte ich auch Schuldgefühle. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, ob ich Manfred oft genug gesagt hatte, wie sehr ich ihn liebe. Ich habe versucht, mich an unseren letzten gemeinsamen Morgen zu erinnern, daran, wie wir uns bei einer schnellen Tasse Kaffee zwischen Küche und Badezimmer verabschiedet haben. So, als ob wir noch tausende Male die Möglichkeit hätten, einander zu sehen und miteinander zu reden.
Irgendwann ist das chaotische Wechselbad der Gefühle langsam verebbt. Ab da war ich in der Lage, Manfreds Grab zu besuchen und mit Leuten zu sprechen, die ihn gekannt und gemocht hatten. Ich bin an Orte gefahren, an denen wir früher gerne gemeinsam waren und ich habe mir alte Fotos angeschaut. Was lange Zeit völlig undenkbar war, hat mir plötzlich Trost gegeben. Ich konnte wieder Lieder hören, die wir beide gemocht hatten und obwohl die Musik meinen Schmerz manchmal verschlimmert hat, hat sie mir auch sehr geholfen. Immer öfter hatte ich das Gefühl, dass ich den Verlust ganz langsam, Schritt für Schritt, in mein Leben integrieren kann. Manfreds Tod hat sich nicht mehr so angefühlt wie eine Amputation ohne Narkose. Ich habe gelernt, damit umzugehen und obwohl ich immer noch starke Stimmungsschwankungen hatte, konnte ich mich auch wieder auf andere Dinge konzentrieren. Ich habe mir erlaubt, mich über Kleinigkeiten zu freuen und mir ab und zu etwas Gutes zu tun. In dieser Zeit habe ich sehr viel in Gedanken mit Manfred gesprochen, ihm von meinem Tagesablauf erzählt und davon, was mich gerade beschäftigt. Und auch, wenn diese Selbstgespräche jedes Mal mit der bitteren Erkenntnis geendet haben, dass Manfred nie wieder mit mir sprechen wird, habe ich aus diesen inneren Dialogen trotzdem Kraft geschöpft. Langsam konnte ich meinen Verlust akzeptieren und mein Leben neu ordnen.
Die Trauerschübe, die sich zuerst wie ein Sturm angefühlt haben, haben sich in Wellen verwandelt. Die Abstände sind im Laufe der Zeit größer geworden und sie gingen nicht mehr ganz so tief. Trotzdem kann ich bis heute mit Sprüchen wie „Die Zeit heilt alle Wunden“ oder „Das Leben muss weitergehen“ nicht allzu viel anfangen. Ich bin den Menschen, die sich in solche Standardsätze flüchten, nicht böse - mittlerweile verstehe ich, dass viele Leute einfach nicht wissen, wie sie mit jemandem umgehen sollen, der gerade einen schweren Verlust erlitten hat. Ich wusste auch selbst lange Zeit nicht, wieviel Trauer ich anderen zumuten darf. Ab wann ich wieder zu „funktionieren“ habe und mein näheres Umfeld mit meinen Gefühlen nicht in unangenehme Situationen bringen darf. Auch das war ein Lernprozess und am Ende sind die Menschen geblieben, die meinen Schmerz aushalten konnten und mich in meinen schlimmsten Phasen aufgefangen haben.
Was ich anderen Trauernden heute raten würde?
Vielleicht, dass sie besonders am Anfang lernen, ihre starken Gefühle oder auch die empfundene Gefühllosigkeit zu akzeptieren. Niemand sollte sich seinen Schmerz ausreden oder angeblich „angebrachte“ Gefühle einreden lassen. Und niemand hat das Recht, anderen Menschen zu sagen, wie lange ihr Trauerprozess zu dauern hat. Das berühmte Trauerjahr ist kein absoluter Richtwert. Es gibt keine vorgegebene Zeitspanne, wie lange jemand trauern kann, darf und soll. Man kann Menschen nicht über einen Kamm scheren und viele Trauernde brauchen mehr als zwölf Monate, bis sie gelernt haben, mit ihrem Verlust umzugehen. Und es wird auch einen Unterschied machen, ob jemand seinen Partner, einen Elternteil, Geschwister oder sein Kind verloren hat. Zum Glück gibt es fast überall schon Trauerbewältigungsgruppen, in denen sich Menschen, die jemanden verloren haben, mit anderen treffen und in einem geschützten Rahmen austauschen können.
Mir persönlich hat letztendlich das Schreiben in meinem Tagebuch sehr gutgetan. Ihm konnte ich Tag und Nacht alles anvertrauen, was mich beschäftigt und gequält hat. Und auch der Tipp einer Freundin, mir einen Tagesplan zu erstellen, damit vor allem meine Wochenenden wieder Struktur bekommen, hat mir sehr geholfen. Und ich habe nach der ersten, ganz akuten Phase meiner Trauer bald wieder gearbeitet. Mein Job hat mir geholfen, tagsüber unter Leute zu kommen und mich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Damals bin ich auch sehr viel spazieren gegangen, die Bewegung war wichtig für mich, um körperliche Spannungen abzubauen.
Im Laufe der Zeit ist es mir immer besser gelungen, das, was passiert ist, zu realisieren. Ich konnte meine Trauer fließen lassen und eine neue Form von Beziehung zu meinem verstorbenen Mann aufbauen. Ich habe versucht, Unausgesprochenes und Unerledigtes für mich zu klären und einen letzten Brief an ihn geschrieben. Aber vor allem habe ich begonnen, mein eigenes Leben wieder zu schätzen und mich nicht schuldig zu fühlen, weil ich noch hier bin.
Trotzdem sind manche Tage schwer für mich. Manfreds Geburtstag, unser Hochzeitstag und auch Weihnachten sind Zeiten, an denen die Trauer wieder hochkommt. Aber inzwischen weiß ich, dass sie auch wieder vergeht. Trotzdem war es schwer für mich, mich von Manfreds Sachen zu trennen. Was behalten, was wegwerfen? Das war eine Frage, die mich lange beschäftigt hat. Aber auch hier gibt es wohl keine Standardantwort. Deshalb habe ich mich letztendlich dafür entschieden, die Sache in meinem eigenen Tempo anzugehen. Ich wollte mich nicht dazu zwingen, übereilt Dinge auszusortieren, an denen mein Herz hängt.
Der Tod meines Mannes erfüllt mich immer noch mit Wehmut, aber mittlerweile kann ich auch hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Niemand wird die Lücke, die sein Verlust bei mir und anderen hinterlassen hat, ersetzen können. Aber ich bemühe mich, meinen Blick immer öfter auch auf das zu lenken, was das Leben immer noch für mich bereithält.