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Vier Bedürfnisse und vier Ängste

Hofbauer Stefan am 24.8.2015
Mo 24 Aug Leben wie ein Baum, einzeln und frei, doch brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht. (Nâzım Hikmet)

Die wissenschaftliche Psychologie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Ordnung in die scheinbar unüberschaubare Vielfalt der Menschen zu bringen. Denn die Vielfalt dieser Welt und der Menschen ist uns nicht nur Freude, sondern auch Last. Bei so viel Unterschiedlichkeit entsteht schnell das belastende Gefühl von Verwirrung und Ausgeliefertsein. Das ist mit ein Grund, warum im Menschen schon früh das Bedürfnis entstand, Ordnungssysteme zu konstruieren, Vereinfachungen und Typologien.

So wurden beispielsweise schon in der griechischen Antike vier Temperamente unterschieden, der Choleriker, Sanguiniker, Phlegmatiker und Melancholiker. Das System wird Empedokles zugeschrieben und wurde von Galen weiterentwickelt. Möglicherweise ist es aber ägyptischen Ursprungs, also noch wesentlich älter.

Die Temperamente-Lehre gilt heute wissenschaftlich als überholt und doch gibt es auch heute zahlreiche psychologische Typologien, die auf dieser Zahl Vier beruhen. So etwa die vier Typen C.G. Jungs (2006), der Fühl-, Denk-, Empfindungs- und Intuitionstypus, des Weiteren die vier Grundformen der Angst von Fritz Riemann (2003) oder auch die vier Grundbedürfnisse von Klaus Grawe.

Riemann unterschied vier Grundformen der Angst, nämlich den schizoiden Typus, der Angst vor der Hingabe hat, den depressiven Typus, der Angst vor der Selbstwerdung hat, den zwanghaften Typus, der Angst vor Veränderung hat und den hysterischen Typus, der Angst vor den Notwendigkeiten und Gesetzmäßigkeiten des Lebens hat. Diese Typologie scheint als grobe Orientierung sehr bedeutsam für viele Psychologen und Psychotherapeuten zu sein, liegt das Buch "Grundformen der Angst" doch mittlerweile in der 41. Auflage vor.

Noch nicht ganz so alt ist das Modell der vier Grundbedürfnisse von Klaus Grawe (2004). Er meinte, dass der Mensch vier Grundbedürfnisse hätte, nämlich das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz, das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung, das Bedürfnis nach Bindung und das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle.

Für mich ergänzen sich diese beiden Systeme insofern, als die Erfüllung eines Bedürfnisses beim Vorliegen bestimmter Ängste erschwert wird und Störungen bzw. neurotische Formen in der Entwicklung bedingt.

Wir haben gemäß Grawe ein Bedürfnis, unseren Selbstwert zu stabilisieren und zu erhöhen. Im ungünstigen Fall, etwa wenn dieses Bedürfnis von den Eltern in der frühen Kindheit immer wieder frustriert wurde, scheitert dieser Prozess und es entsteht eine tiefe Angst vor Selbstwerdung oder Individuation, wie C.G. Jung das genannt hat. Wenn wir nicht den Mut finden, unsere Potenziale zu verwirklichen, zu uns selbst zu stehen, uns durchzusetzen, uns abzugrenzen und nach außen klar und deutlich zu kommunizieren, was wir wollen, führt das psychologisch zu einem depressiven Muster und dazu, dass wir nicht aus freien Stücken gerne mit anderen zusammen sind, sondern andere brauchen.

Erich Fromm hat gesagt, so lange wir andere brauchten, seien wir nicht fähig, eine Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe zu führen. Wir würden dann auf die eine oder andere Art immer von anderen (Partner, Chef, Eltern, Freunde, Staat…) abhängig bleiben. Wenn ich Angst davor habe, wirklich ich selbst zu werden, versuche ich immer allen alles Recht zu machen, mich anzubiedern, ich werde nie sagen, was ich wirklich denke, sondern immer nur das, was gerade opportun ist. Leider will es mir scheinen, dass dieses Muster in unserer scheinbar so individualisierten Welt überproportional häufig vertreten ist. Als Beispiel mögen hier soziale Medien wie etwa Facebook oder Twitter dienen, wo viele nur mehr fremde Meinungen "liken", aber oft keine eigene Meinung mehr haben. Die Neigung vieler Menschen, Verantwortung abzugeben an Politiker, Experten, Wissenschaftler und Psychologen, gehört wohl auch hierher.

Das wünschenswerte Ziel heißt, so weit zu kommen, dass wir sagen können: Ich bin hier, unterscheidbar, einzigartig, das ist mein Standpunkt und das sind meine klaren Grenzen. Dafür stehe ich, das vertrete ich und so funktioniere ich!

Aus gestalttherapeutischer Sicht neigt der depressive Charakter wohl am ehesten zur Kontaktunterbrechung (=Abwehrmechanismus) der Introjektion und der Konfluenz (vgl. die Artikel "Introjektion und Verantwortung" und "Konfluenz und Konflikt").

Ein weiteres Bedürfnis nach Grawe ist das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung, welches für Freud das wichtigste Bedürfnis darstellte. Wir haben ein Bedürfnis nach Lebensfreude, ungehindertem Selbst-Ausdruck und Sexualität. Wir möchten in Leben schwelgen und uns lustvoll Spiel und Spaß hingeben. Das gesunde Ziel lautet hier, nach innen zu blicken, das eigene Wesen zu fühlen und es zum Ausdruck zu bringen, stark, kraftvoll und in heiterer Lebensfreude, im Austausch mit der Umwelt und zum Gewinn für diese. Denn nur wenn ich unverwechselbar, kraftvoll und lebendig bin, wird mich die Umwelt überhaupt wahrnehmen.

Ist die Angst vor Veränderung und Lebendigkeit jedoch zu groß, entsteht hier das zwanghafte Muster, wo wir krampfhaft an der Vergangenheit festhalten und in Sicherheit investieren, um nur ja nichts zu riskieren. Wir investieren in alles, was unveränderlich ist und wünschen nichts mehr, als dass alles beim Alten bliebe. Das Neue macht hier am meisten Angst und erzeugt Verwirrung.

Gestalttherapeutisch wird der zwanghafte Charakter wohl am ehesten dazu neigen zu retroflektieren. Er ist derjenige, der so lange Haltung bewahrt, bis sein Körper mit einem Bandscheibenvorfall reagiert (vgl. den Artikel "Retroflektion und Psychosomatik").

Ein weiteres, und aus heutiger Sicht vielleicht das wichtigste, Bedürfnis ist das Bedürfnis nach Bindung. Dieses wird in der Psychologie heute als besonders wichtig erachtet und es gilt als empirisch am besten abgesichertes Grundbedürfnis. Insbesondere Bowlby (2006) postulierte ein angeborenes Bedürfnis, die physische Nähe einer primären Bezugsperson zu suchen und aufrechtzuerhalten. Störungen im Bereich der frühen Bindungen werden heute als die wichtigste Quelle für spätere psychische Störungen erachtet. In neuerer Zeit macht man sie sogar für die Entstehung vieler Süchte verantwortlich.

Der Mensch ist ein soziales Wesen und möchte sich mit anderen verbinden, an ihnen reiben, mit ihnen diskutieren, sich mit ihnen messen und auf diese Art klarer erkennen, wer er selbst ist, in Abgrenzung vom Anderen.

Geht hier etwas in der Entwicklung schief und ist unsere Angst vor Hingabe größer als das Bedürfnis nach Bindung, so entsteht nach Riemann der schizoide Charakter, der lieber um sich selbst kreist, anstatt sich auf die Ungewissheit einer Bindung einzulassen. Der Schizoide ist überintellektuell und will lieber alles hundert Mal durchdenken, bevor er einen Schritt auf den anderen zu macht. Er projiziert Gefühle gerne auf andere und unterstellt ihnen Beweggründe, die im Grunde seiner eigenen Bedürftigkeit entspringen. Anstatt sich auf das Du wirklich einzulassen, interpretiert er lieber einzelne Gesten und Worte so lange, bis er sich selbst von der Aussichtslosigkeit dieser Bindung überzeugt hat. Der Satz: "Das war wirklich ein schöner Abend!", nach einer ersten Verabredung, wird dann bei ihm schnell zur Frage: "Bin ich wirklich schon bereit zu heiraten?", wo das zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht zur Debatte steht.

Wie bereits erwähnt, neigt der Schizoide wohl am meisten dazu, seine Gefühle und ungelebten Selbst-Anteile zu projizieren (vgl. Artikel "Projektion").

Das vierte der Grundbedürfnisse ist für Grawe das nach Orientierung und Kontrolle. Solange wir in unserem Leben das Gefühl haben, den Überblick zu haben und dass die Dinge einigermaßen in unserer Kontrolle liegen, geht es uns gut. Erst wenn, wir ins "schwimmen" kommen und uns die Kontrolle immer mehr entgleitet, werden wir krank.

Ist die Angst vor Regeln und Kontrolle andererseits so groß, dass eine ausgesprochene Angst vor den Notwendigkeiten des Lebens entsteht, dann geht es im ungünstigen Fall nur noch um Lustgewinn und Lustmaximierung, Unlust wird um jeden Preis vermieden. Im Sinne Riemanns entsteht hier das hysterische (heute: histrionische) Muster. Üblicherweise ist das ein Muster von Jugendlichen. Spiel, Spaß und Party sind die wichtigsten Lebensinhalte. Dass ein Ladendiebstahl, der Konsum mancher Drogen oder ein Schulabbruch auch Konsequenzen haben können, wird vorerst ignoriert, denn das würde den Spaß verderben. Vernünftig argumentierende Mitmenschen werden gerne als "Spießer" und Spielverderber bezeichnet, die vom Leben keine Ahnung hätten.

Der Abwehrmechanismus aus gestalttherapeutischer Sicht wird hier am ehesten die Deflektion und der Narzissmus sein. Unter Deflektion versteht man, vereinfacht ausgedrückt, ein "Vorbeireden" an dem, was eigentlich zur Debatte steht. Man findet dieses Muster besonders häufig bei Politikern.

Sowohl Riemann als auch Grawe räumen ein, dass es im konkreten Menschen immer alle vier Ängste und alle vier Bedürfnisse gäbe und diese untereinander auch zusammenhingen. Es gibt also weder den "nur" schizoiden Charakter, noch beschränkt sich irgend ein einzelner Mensch auf lediglich ein Grundbedürfnis. Im Rahmen seiner Konsistenztheorie führt Grawe aus, wie die Bedürfnisse mit einer Systemebene und einer motivationalen Ebene interagieren, um schließlich im konkreten Verhalten eines Menschen zu münden.

Meiner Erfahrung nach scheint es jedoch sowohl hinsichtlich der Ängste als auch hinsichtlich der Erfüllung der Grundbedürfnisse Tendenzen in Menschen zu geben, die auch in der Psychotherapie überaus hilfreich sein können. Ein Mensch mit "schizoidem Schwerpunkt" wird vor allem Kontakt zu anderen Menschen aufbauen müssen. Ein eher depressiver Mensch wird besonders große Schwierigkeiten dabei haben, zu sich selbst zu kommen, sich zu behaupten und abzugrenzen. Der Zwanghafte hat am meisten Angst vor Unberechenbarkeit und Veränderung und wird davon profitieren, sich schrittweise auf Umstände einzulassen, die nicht planbar sind. Der histrionische Typ schließlich wird lernen müssen, dass es von Vorteil sein kann, sich hin und wieder auch an allgemein verbindliche Regeln zu halten.

Literatur
1) Jung, Carl Gustav (2006). Psychologische Typen, Gesamtwerk, Band 6. Walter Verlag.
2) Riemann, Fritz (2003). Grundformen der Angst, 36. Auflage, Reinhardt Verlag.
3) Grawe, Klaus (2004). Neuropsychotherapie. Hogrefe Verlag.
4) Bowlby, John (2006). Bindung als sichere Basis: Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie. Reinhardt Verlag.

www.gestalttherapeut.com
Abwehrmechanismus Angst Grundbedürfnis Kontaktunterbrechung Typologie
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