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Introjektion und Verantwortung

Hofbauer Stefan am 24.2.2014
Mo 24 Feb

Kein Mensch muss müssen! Man ist niemandem in der Welt etwas schuldig, als sich selber.   (Gotthold Ephraim Lessing)

Wahrscheinlich 90% von dem, was wir glauben tun zu müssen, ist eine Ausrede, um keine Verantwortung für unser eigenes Leben übernehmen zu müssen. Bei den „Müssens“ und „Sollens“ in unserem Kopf handelt es sich meistens um Introjekte, die uns das Leben eher erschweren als erleichtern.

Als Introjektion bezeichnet man den Vorgang, den man metaphorisch als „unzerkaut schlucken“ umschreiben könnte. Regeln, Vorschriften, Wünsche von Eltern, Vorgesetzten oder Lehrern werden einfach übernommen, ohne zu beurteilen, ob sie für uns passend oder verdaulich sind. Es ist dies die natürliche Art, wie Kleinkinder Dinge annehmen. Das Kind „schluckt“ zunächst alles, was ihm dargeboten wird.

Ein Introjekt ist also ein geistiger Inhalt, der wie ein unzerkautes Lebensmittel, schwer im Magen liegt, also sinnlos nachgebetet wird, ohne wirklich in unsere Persönlichkeit assimiliert worden zu sein.

Das Introjekt ist dabei die Regel, die wir jeweils übernommen haben, z.B. das „Du sollst nicht bei Rot über die Kreuzung gehen!“, „Sei immer schön freundlich“, „Grüße jeden“, „Du darfst niemals jemanden verletzen", etc.

Introjektion gehört neben Projektion, Retroflektion, Deflektion und Konfluenz zu den sogenannten Kontaktunterbrechungen in der Gestalttherapie. Um den vollen, aktiven Kontakt mit der Umwelt zu vermeiden, verhält sich das introjizierende Individuum völlig passiv gegenüber seiner Umwelt und verwendet sehr wenig Mühe darauf, seine Bedürfnisse und Wünsche zum Ausdruck zu bringen. (Polster, 2001)

Manche dieser Introjekte waren zu einem bestimmten Zeitpunkt unseres Lebens durchaus sinnvoll. Wenn beispielsweise ein kleines Kind im Alter von 5 Jahren bei Rot über die Kreuzung gehen würde, würde es wahrscheinlich nicht sehr lange überleben.

Viele dieser Introjekte sind auch später noch sinnvoll, in ihrer Absolutheit und als unbedingtes Müssen werden sie jedoch lebensfeindlich und machen uns unlebendig. Sie nehmen uns die Möglichkeit spontan, offen und flexibel zu reagieren. Die primäre Aufgabe bei der Aufhebung der Introjektion besteht daher darin, innerhalb des Individuums ein Gefühl für seine Wahlmöglichkeit zu schaffen und seine Fähigkeit zu fördern, zwischen „mir“ und „dir“ zu unterscheiden (Polster, 2001).

Ich bringe in diesem Zusammenhang gerne folgendes drastische Beispiel, um zu verdeutlichen, dass wir immer eine Wahl haben, auch wenn wir noch so sehr glauben, keine zu haben:

Wenn Ihnen jemand eine geladene Pistole an den Kopf hält und Sie zwingen möchte, etwas Bestimmtes zu tun, haben Sie im Grunde immer noch die Wahl, sich erschießen zu lassen oder zu tun, was der Täter verlangt.

Glücklicherweise sind Entscheidungen in unserem Leben selten derart dramatisch!

Bedauerlicherweise stellen sich viele Menschen aber niemals die Frage, was sie selber eigentlich wollen, was sie brauchen oder was ihnen in einer bestimmten Situation gut tun würde. Wenn ich mir diese Frage aber niemals gestellt habe, kann ich auch nicht erwarten, dass ich jemals bekommen werde, was ich will oder was mir mehr Zufriedenheit gibt als all die Zwänge, denen ich jeden Tag unterworfen zu sein glaube.

Gleichzeitig ist das (nämlich die obigen Fragen nicht zu stellen) aber auch eine, meist unbewusste, Möglichkeit, Verantwortung zu vermeiden. Wenn ich ständig nur das erfülle, was andere Menschen von mir wollen, dann kann ich mich ständig weiter beklagen, wie schrecklich das Leben doch ist.

Ein einfaches Beispiel, das so häufig ist, dass sich vermutlich viele Menschen darin wiederfinden werden. Nehmen wir einmal an, ich befinde mich in einem Job, der mir aus unterschiedlichen Gründen mehr Last als Lust ist. Vielleicht, weil mein Chef ein Tyrann ist oder weil der Job mich in keinster Weise ausfüllt oder weil unglaublich viel Leistung von mir verlangt wird, bei sehr geringer Bezahlung.

Im Grunde hat jeder Mensch mehrere Möglichkeiten mit so einer Situation umzugehen. Die unverantwortlichste und feigste Lösung ist, jeden Tag über den Job zu jammern und allen Menschen in meiner Umgebung die Stimmung zu vermiesen, mich aber darauf herauszureden, dass ich diesen Job ja machen muss, weil ich schließlich einen Kredit abzuzahlen habe, weil meine Kinder neue Kleidung benötigen, weil ich im Sommer in Urlaub fahren möchte, etc.

Eine sehr viel verantwortlichere Lösung wäre, sich zu fragen, was ICH wirklich will, welche Art Tätigkeit mir angenehmer wäre, was ich in einem Job brauche, um möglichst zufrieden zu sein und dann konsequent Schritte zu setzen, um genau das zu erreichen.

Eine andere Möglichkeit wäre – und das mag in der heutigen Arbeitsmarktsituation durchaus vorkommen – festzustellen, dass ein Jobwechsel nahezu nicht realisierbar ist und sich daher konsequent zu fragen, was mir dieser Job, den ich derzeit ausübe, für bessere Möglichkeiten bietet, mich zu entfalten. Vielleicht kann ich ja innerhalb der Firma andere Aufgaben übernehmen oder ich trete aktiv an meinen Chef heran und mache Vorschläge hinsichtlich meiner zukünftigen Aufgaben. Und sogar dann, wenn all das nicht möglich ist, kann ich aktiv versuchen, das halb volle Glas zu sehen und die Möglichkeiten, die mir mein derzeitiger Job bietet zu nutzen und in einem positiveren Licht zu sehen.

Und darüber hinaus habe ich es in Therapiesituationen immer wieder erlebt, dass Klientinnen und Klienten nach einer langen Phase innerer Entwicklung erstmals klar formulieren konnten, was sie wirklich wollen und dann, so unwahrscheinlich das auch in Einzelfällen war, plötzlich einen Job fanden, der diesem Wollen weitestgehend entsprach.

Jammern und gleichzeitig nichts zu tun, d.h. auch keinerlei Verantwortung zu übernehmen, ist jedenfalls die schlechteste Lösung und nicht nur für mich selbst, sondern auch für mein gesamtes Umfeld eine Belastung.

Was will ich? Was brauche ich? Was vermeide ich? - das sind die Fragen, die wir uns im Sinne einer größeren Eigenverantwortlichkeit stellen können. Und um die Müssens und Sollens in unserem Kopf aufzulösen ist es hilfreich, bei jedem solchen Satz die Frage anzuhängen: "Wer sagt das?", "Von wem stammt dieser Satz ursprünglich?", "Stimmt das überhaupt?" bzw. auch "Aber das ist nur ein Gedanke!"

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Polster, Erving und Miriam (2001). Gestalttherapie. Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie. Peter Hammer Verlag.

#Introjekt #Introjektion #Kontaktunterbrechung


 



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