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Literatur > Das Geheimnis des Anderen - Empathie in der Psychotherapie: Wie Therapeuten und Klienten einander verstehen


von Frank-M. Staemmler
Gebundene Ausgabe
Ausgabe: 1., Aufl.
Verlag: Klett-Cotta
Erscheinungsjahr: 2009
ISBN: 3608945032
   (1 Bewertung von Psychotherapeut*innen)   1 Kommentar


Kommentare und Bewertungen zu diesem Buch


Zuerst erschienen in der Zeitschrift Gestalttherapie: Forum für Gestaltperspektiven,
23.Jahrgang, Heft 2/2009, S. 154-6.

Einer alten Gewohnheit folgend, habe ich beim Lesen des Buches mit dem Literaturverzeichnis begonnen. Es umfasst 31 Seiten und belegt die Vielseitigkeit und den Drang des Autors, seelische Vorgänge zu verstehen und herauszufinden, welche Möglichkeiten die Psychotherapie hat, diese zu beeinflussen. Verständnis ist eines der Schlüsselwörter des Buches. Wie können wir andere Menschen überhaupt verstehen? Wie ist es bei aller Unterschiedlichkeit und Individualität, die uns Menschen auszeichnet, möglich, sich in das seelische Erleben eines anderen Menschen hineinzuversetzen, hineinzudenken oder einzufühlen? Welche Erklärungsansätze lassen sich dafür finden und was bedeuten diese für Theorie und Praxis der Psychotherapie?

Frank Staemmler hatte sich in der Vergangenheit schon mehrmals kritisch über bestimmte Vorstellungen von Empathie geäußert (Staemmler, Therapeutische Beziehung 1993, 44f und ders., Der leere Stuhl 1995, 120). Ich war deshalb neugierig, was ihn jetzt dazu bewogen hatte, diesem Thema ein ganzes Buch zu widmen. „Denn mir geht es ... in erster Linie darum, das ungeheure therapeutische Potential, das in der menschlichen Einfühlsamkeit steckt, besser zu verstehen und damit für die psychotherapeutische Praxis besser nutzbar zu machen“(19).
Zuerst gibt es einen Blick zurück. Das traditionelle Verständnis von Empathie wird vorgestellt: „Empathie ist eine Form der Zuwendung, bei der die Therapeutin darum bemüht ist, die Erfahrungswelt ihres Klienten möglichst genau zu erfassen, ohne dabei ihr Bewusstsein für die Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen zu verlieren.“ (30) Rogers, Perls und Kohut werden zitiert und deren Auffassungen anschließend einer Kritik unterzogen.
Erster Kritikpunkt: Nicht nur die TherapeutIn ist empathisch – auch die KlientIn. Empathie gehört zur anthropologischen Grundausstattung – wie „Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken“ (35).
Zweiter Kritikpunkt: Empathie ist ein Vorgang, der mit der dualistischen Philosophie von Descartes (res cogitans/res extensa) nicht verstanden werden kann. Die „Entkörperlichung“ muss überwunden werden. Dazu wird das Konzept des „Leibes“ aus der Phänomenologie herangezogen. „Der ‚Leib’ ist in phänomenologischer Terminologie der erlebte und belebte Körper.“ (48)
Dritter Kritikpunkt: Die einseitige Betonung des Individualismus führt in die Isolation. Empathie ist ein intersubjektiver Vorgang. „Werden, wer man ist, kann man nicht alleine.“(61)
Mit diesen grundlegenden anthropologischen Annahmen ist eine Hintergrundfolie ausgebreitet, vor der Staemmler sein erweitertes Konzept von Empathie ausarbeitet. Im zentralen Kapitel seines Buches Leibliche Einfühlung – „Einleibung“ stellt er Ergebnisse der Psychologie, Phänomenologie und der Neurowissenschaften vor. Er findet dabei eine auffällige Übereinstimmung dieser drei Wissenschaften zum Thema Empathie vor. Alle drei belegen, dass Empathie zuallererst ein leibliches Geschehen ist, das nicht bewusst herbeigeführt werden kann oder muss, weil die Fähigkeit zur Empathie zur Grundausstattung aller Menschen gehört und sich in jeder Begegnung zwischen Menschen spontan und unwillkürlich einstellt. Sie ist sozusagen der primäre Vorgang in der Begegnung mit dem Anderen. Eine Steuerungsmöglichkeit – so legen es die Forschungsergebnisse nahe - gibt es nur insoweit, dass Empathie verhindert oder unterdrückt werden kann.
Die Sicht der Psychologie, die Staemmler aus zahlreichen experimentellen Arbeiten zusammengestellt hat (u.a. Paul Ekmans Theorie über das facial feedback, die Theorie der altero-zentrierten Partizipation von D.N. Stern und die vielen Untersuchungen, die er im Zusammenhang mit der mimetischen Synchronisierung anführt), ist beeindruckend und spannend zu lesen. Diese psychologischen Experimente belegen für Frank Staemmler, wie eng Körper und Seele miteinander verbunden sind.
Die Konzepte der Leiblichkeit und der Perspektivität, die von der Phänomenologie entwickelt wurden, dürften den meisten GestalttherapeutInnen bekannt sein. Ausführlich kommt Edith Stein – eine Schülerin Edmund Husserls – zu Wort. Sie hat 1917 eine Arbeit „Zum Problem der Einfühlung“ verfasst. Das ist eine interessante aber sprachlich schwierige Lektüre.
Im Abschnitt über die Neurowissenschaften stellt der Autor die bahnbrechende Entdeckung der Spiegelneuronen vor. Hier hebt sich Frank Staemmler wohltuend von unkritischen Rezipienten neurowissenschaftlicher Theorien ab. Er ist sich der wissenschaftstheoretischen Fragestellungen, die für den Bereich der Naturwissenschaften gelten, bewusst. So vermeidet er „Kurzschlüsse“ und Kategorienfehler, die häufig Hand in Hand gehen mit der Begeisterung für neurowissenschaftliche Innovationen. Wenn es für Frank Staemmler auch viele offene Fragen im Zusammenhang mit den Forschungsergebnissen der Neurowissenschaften gibt, so legen diese für ihn doch nahe, dass Menschen auf Grund der Spiegelneuronen aktuelle Verhaltensweisen anderer unmittelbar verstehen können. Mit J. Decety fasst er die Befunde zusammen: „Die Art, wie unser Nervensystem organisiert und von der Evolution geformt worden ist, stellt den basalen biologischen Mechanismus für die Resonanz mit Anderen bereit.“ (183) Damit ist auch auf einer biologischen Ebene die Basis gelegt, um den Begriff der Konfluenz neu zu überdenken.
In einem weiteren Schritt geht es Frank Staemmler dann darum, den individualistischen Ansatz des traditionellen Empathiebegriffes zu erweitern. Dabei greift er auf ein Konzept zurück, dass ebenfalls von Phänomenologen entwickelt wurde, um eine übergreifende Dimension zu beschreiben. Empathisches Geschehen zwischen Menschen wird dabei als immer schon in eine gemeinsame Situation eingebettet verstanden. Nicht das Individuum steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, der Fokus wird vielmehr auf das gemeinsame Ganze gerichtet. „Die Einfühlung, die dabei stattfindet, besteht vornehmlich in dem Gespür dafür, wie es ist, sich gemeinsam mit dem Anderen in dieser gemeinsamen Situation zu bewegen und von ihr bewegt zu werden...“(225)
Nachdem Frank Staemmler ausführlich die psychologischen, biologischen und philosophischen Untersuchungen zur Empathie dargelegt hat, geht er in einem letzten Kapitel auf die Frage ein: „Warum ist Empathie heilsam?“ Bei der Beantwortung greift er auf den Grundsatz der Interiorisierung von L.S. Vygotskij zurück: „ich verhalte mich zu mir so, wie andere Menschen sich zu mir verhalten.“ (269) Indem in der gemeinsamen Situation zwischen TherapeutIn und KlientIn ein empathischer Austausch gelingt, lernt die KlientIn, auch dann zu sich empathisch zu sein, wenn sie einmal allein ist und sich niemand Anders ihr zuwendet. Ein solches empathisches Verhalten sich selbst gegenüber gibt die Sicherheit, die Verbindung zu sich und zu anderen immer wieder neu herstellen zu können und sich so die seelische Gesundheit erhalten zu können.
Bei jedem Schritt, mit dem Frank Staemmler das traditionelle Empathiekonzept erweitert, schildert er die Auswirkungen auf das psychotherapeutische Setting. Viele Beispiele aus der eigenen Praxis (eines, das mir besonders gut gefällt, veranschaulicht, was mit der gemeinsamen Situation gemeint ist und findet sich in Textbox 65) lockern den anspruchsvollen Theorieteil auf und beinhalten behandlungstechnische Anregungen. Der Autor hat sich nicht nur bemüht, die Ergebnisse der Forschung zusammenzutragen und weiterzudenken. Seine Absicht war es auch – und das ist ihm sichtlich gelungen - ein gut lesbares Buch zu schreiben. Es gibt nicht nur die schon erwähnten Textboxen, in denen zentrale Begriffe komprimiert dargestellt und für das Verständnis wichtige Personen kurz vorgestellt werden. Am Ende eines jeden Kapitels findet sich ein Resümee und an einigen Stellen helfen Grafiken, die komplexen Gedanken zu verstehen.
Mag. Ernst Mayerl








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