Suchmenü einblenden

Wie Wachstum nicht funktioniert

Hofbauer Stefan am 16.12.2014
Di 16 Dez Wenn Sie weiterhin das tun, was Sie bisher getan haben, werden Sie weiterhin das bekommen, was Sie bisher bekommen haben.

Therapieunerfahrene Klienten*) oder Menschen, die nicht im Traum daran denken, eine Therapie in Anspruch zu nehmen, haben häufig den Eindruck, dass ein Therapeut den ganzen Tag damit beschäftigt ist, seinen Klienten zu erklären, wie sie zu leben haben. Der Therapeut gäbe Tipps für ein gutes, glückliches Leben, vermittle Strategien und Verhaltensweisen, ähnlich wie ein Arzt, der eine Krankheit diagnostiziert und binnen weniger Minuten mit Medikament XY zur Hand ist, das alle seine Beschwerden beseitigt und idealerweise keine Nebenwirkungen hat.

Oft ist es dann ziemlich überraschend für Klienten, die sich tatsächlich durchgerungen haben, eine Therapie zu beginnen, dass Therapeuten nichts dergleichen tun. Es mag vorkommen, dass ein Therapeut seine Klienten auffordert, etwas Bestimmtes auszuprobieren, um zu erleben, wie sich diese neue Verhaltensweise anfühlt. Allerdings immer unter der Voraussetzung, dass der Klient seine Wahlfreiheit behält und selbst herausfindet, was für ihn passend erscheint. Eine direkte Aufforderung: "Tun Sie das! Meiden Sie jenes!", wird ein guter Therapeut niemals oder jedenfalls höchst selten erteilen. Denn damit wäre nichts gewonnen.

Ratschläge zu erteilen kann nicht Bestandteil guter Beratung oder Therapie sein. Der Klient hätte ja im Falle der Befolgung des Ratschlags nur zwei Optionen, die beide keine dauerhafte Veränderung bewirken können. Entweder befolgt er den Ratschlag des Beraters, der sich als erfolgreich herausstellt oder er befolgt ihn und scheitert erneut.

In ersterem Fall, wäre er vom Therapeuten oder Berater abhängig geworden und hätte erneut eine Bestätigung erhalten, dass er selber keine Lösung finden KANN. In zweiterem Fall hätte er keinen Erfolg gehabt und hätte jetzt die Möglichkeit, den Therapeuten dafür verantwortlich zu machen. Auch hier wäre also kein Zugewinn an Autonomie oder Selbstwirksamkeit (=Einschätzung der eigenen Kompetenz mit Schwierigkeiten im Leben zurecht zu kommen) erreicht. Der Klient hätte lediglich einen neuen Schuldigen für sein Scheitern gefunden.

Klienten, die sich in Psychotherapie begeben, sind ja immer Menschen, die herausgefunden haben, dass manche ihrer Verhaltensweisen ihnen offenbar mehr Schwierigkeiten als Nutzen bringen. Bisher glaubte der Klient zu wissen, wie er sich verhalten muss, damit andere das tun, was er will. Mit anderen Worten, er manipuliert ununterbrochen. Beispielsweise könnte er gelernt haben, sich hilflos zu zeigen, damit andere ihm helfen oder seine äußere Attraktivität einzusetzen, um sich deutlich mehr herausnehmen zu können als die meisten anderen Menschen. Vielleicht stellt er sich etwas dümmer an, als er ist, damit seine Umgebung ihm lästige Aufgaben abnimmt oder er drückt auf die "Tränendrüse", um vor harten Worten verschont zu bleiben. Eine recht häufige Strategie ist auch das ständige Stellen von Fragen, um von eigenen Gefühlen und eigenem Erleben abzulenken (vgl. auch den Artikel "Sinnvolles Fragen" in diesem Blog).

Insofern kann es nicht Aufgabe eines Therapeuten sein, dem Klienten noch mehr Strategien zu liefern, von denen er dachte, dass sie funktionieren, die ihn aber in Wirklichkeit erst in Schwierigkeiten gebracht haben.

Manchmal ist es gerade das Streben nach Normalität und Anerkennung, das Menschen dazu veranlasst, eine Psychotherapie aufzusuchen. Gerade dieses (oft schon verzweifelte) Bemühen um Normalität und Anpassung ist es aber, das Menschen Probleme beschert und ihren Individuationsprozess und ihr Wachstum verhindert. Da nützt es wenig, einen Therapeuten aufzusuchen, um weitere Anpassungsmittel und Manipulationsstrategien zu erlernen, denn diese würden das Problem nur verschlimmern.

Die Manipulationsmittel von Klientinnen und Klienten sind vielfältiger Art. Möglicherweise bestehen sie darin, extrem viel zu reden oder zu schmollen, viele Versprechungen zu machen oder andauernd Entschlüsse zu fassen und Absichten zu erklären. Manche Klienten manipulieren uns mit besonderer Unterwürfigkeit, andere durch Sabotage, manchen gefällt immer wieder ein ganz bestimmter Tonfall nicht oder wir benutzen die falschen Worte, unterstreichen unsere Worte vielleicht mit der falschen Mimik oder einem allzu ernsten Blick. Vielleicht besteht seine Strategie auch darin, uns ständig auf Nebenthemen zu bringen, vermeintlich interessante Träume zu erzählen oder er hypnotisiert uns mit einer allzu monotonen Stimme. Die Wege sind zahlreich und nicht immer so einfach zu erkennen.

Der Job des Therapeuten besteht jetzt zunächst darin, all diese Manipulationsversuche gezielt zu frustrieren. Und das ist für Klienten sehr anstrengend und unlustvoll. Wenn sie Glück haben, erleben sie in der Therapiesituation zum ersten Mal, dass sie mit ihren Strategien und Manipulationsversuchen nicht durchkommen. Dass das jedoch ein Glück ist, werden Klienten zunächst nicht so empfinden. Für ihn fühlt es sich vielmehr so an, als werde einem Kind sein liebstes Spielzeug weggenommen und er fühlt sich zunehmend nackt und ausgeliefert. Zum ersten Mal wird er gezwungen so zu sein, wie er wirklich ist und das mag er überhaupt nicht.

Nach und nach kommt der Klient in einen Zustand, den wir in der Gestalttherapie Impasse nennen. Das ist ein Zustand der Leere, der entsteht, wenn wir merken, dass unser altes Verhalten nicht mehr funktioniert, wir aber noch keine neuen Verhaltensweisen als Alternative aufbauen konnten. Das ist zunächst ein sehr unangenehmer Zustand, den man als furchtbare Leere bezeichnen könnte. Ziel ist es, diese furchtbare Leere in eine fruchtbare zu verwandeln. Salomo Friedlaender nannte das den Zustand der schöpferischen Indifferenz, die gewissermaßen die philosophische Grundlage der Gestalttherapie darstellt.

Gerade wenn wir nicht wissen, wie wir handeln sollen oder müssen, wächst Kreativität in uns, probieren wir Neues aus und sind wir ganz frisch einfach nur wir selbst. Die ganze Energie, die zuvor in Manipulationsversuche der anderen geflossen ist, fließt jetzt in Selbstunterstützung und authentisches Verhalten. Der Klient braucht uns nicht mehr, um zu erfahren, wie er sich verhalten soll. Er ist einfach nur mehr er selbst.

Das Besondere an einer Therapiesituation ist einerseits, dass ich als Klient vollkommen angenommen werde wie ich bin, dass jeder Gedanke, jedes Gefühl, jedes noch so bizarre Verhalten sein darf und dass andererseits der Therapeut überaus achtsam darüber wacht, was echt an mir ist und was unecht. Anders ausgedrückt: ich werde als Mensch total angenommen, während meine Rollen, die ich mir zu spielen angewöhnte, um ein falsches Selbstbild von mir aufrecht zu erhalten, systematisch frustriert werden. Dies entspricht ganz den Worten Arnold Beissers, der meinte, dass Veränderung dann geschieht, wenn jemand wird, was er ist und nicht, wenn er versucht zu werden, was er nicht ist.

Als gesellschaftskritische Anmerkung sei es mir erlaubt zu erwähnen, dass wir, soweit es Österreich betrifft, geradezu in einer Kollektivneurose gefangen sind, wenn Behörden und Institutionen, aber auch Banken und Konzerne, glauben, alles bis ins kleinste Detail regeln zu müssen, alles verbieten zu müssen, was auch nur im entferntesten ein Problem werden könnte. Wir scheinen hier gesamtgesellschaftlich von der Angst erfasst zu sein und überhaupt nicht mehr zu verstehen, dass Lebendigkeit, Menschlichkeit und Liebe sich nicht an Gesetze halten.

Die lebendigen und authentischen Bedüfnisse von Menschen, und seien sie uns auch unverständlich, verlangen nach Erfüllung und nicht nach Regeln und Verboten. Und vielleicht können wir Psychotherapeuten einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, dass Menschen lernen, diese Bedürfnisse zu spüren und zum Ausdruck zu bringen.

Gehemmt oder angepasst zu sein bedeutet, ein Leben auf Sparflamme zu führen und nie richtig erfolgreich und glücklich werden zu können. Individuation und Wachstum bedeuten eben gerade nicht, sich rigoros und über das Maß des sozial absolut Notwendigen hinaus anzupassen, sondern es bedeutet, zu mir selbst zu finden, meine eigenen Bedürfnisse zu entdecken, meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, meinen Willen durchzusetzen und mich zu behaupten. Das mag manchen unserer Mitmenschen nicht gefallen, uns selbst aber wird es ein Gefühl geben, unserer Natur gemäß zu leben und unser individuelles Wesen zur Entfaltung zu bringen.

Das soll – und das ist ein häufiges Missverständnis gerade wenn es um Gestalttherapie geht – kein Plädoyer für rücksichtslosen Egoismus sein. Ganz im Gegenteil! Wenn ich erst einmal mit mir selbst, meinen individuellen Gedanken und Gefühlen und meinen Bedürfnissen in Kontakt gekommen bin, wird mir das auch im Kontakt mit anderen Menschen besser gelingen. Solange ich immer nur die Bedürfnisse der anderen erfüllen wollte, war ich auf Rätselraten und Mutmaßungen angewiesen und konnte es meinen Mitmenschen doch nie recht machen, ganz einfach deshalb, weil ich mich ununterbrochen verstellte und völlig unauthentisch war. Je mehr ich mit mir selbst authentisch und angstfrei in Kontakt gekommen bin, desto toleranter und liebevoller werde ich mit anderen Menschen umgehen können. Wenn ich jedoch meine irgendwelchen fiktiven gesellschaftlichen oder elterlichen Regeln folgen zu müssen, werde ich Wachstum und Entwicklung immer wieder untergraben und andere Menschen ungewollt ständig verletzen.

---
*) Gemeint sind immer Männer und Frauen, auch wenn ich der Lesbarkeit halber auf durchgehende Genderung verzichte.

Literatur

Blankertz, Stefan & Doubrawa, Erhard (2005). Lexikon der Gestalttherapie. Wuppertal: Peter Hammer Verlag.

Perls, Fritz (1999). Grundlagen der Gestalt-Therapie. Einführung und Sitzungsprotokolle. 10. Auflage, München: Pfeiffer bei Klett-Cotta.

www.gestalttherapeut.com
Entwicklung Neurose Psychotherapie Wachstum
Permalink


Loggen Sie sich ein, um diesen Blog-Eintrag zu kommentieren und Kommentare zu lesen
(Kommentare nur für Expert*innen zugänglich).

Zum Login


Sie sind hier: Startseite

Weitere bestNET.Portale

powered by T3consult
Datenschutz-Erklärung