Das Gold im Schatten |
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Hofbauer Stefan am 26.10.2013 | |
26 Okt
„Schatten“ kommt aus dem Indogermanischen „Skot“ und bedeutet „dunkel“. Und so meint Schatten alles, was wir im Dunkeln unserer Persönlichkeit mit uns herumtragen. Haltungen, Einstellungen, Verhaltensweisen zumeist, die wir nicht zeigen durften bzw. meinten nicht zeigen zu dürfen (Johnson, 2013). Der Begriff Schatten wird häufig wertend verstanden, so als wäre er etwas Schlechtes und nur Licht etwas Gutes. In der Esoterikszene geht das so weit, dass es inzwischen Menschen gibt, die sich als „Lichtarbeiter“ bezeichnen. Das Leugnen des eigenen Schattens und Unbewussten macht uns in Wahrheit aber nur zu Heuchlern. Eigentlich meint der Begriff Schatten jene Persönlichkeitsanteile, die uns nicht bewusst sind, die im Verborgenen liegen. Das können natürlich AUCH Persönlichkeitseigenschaften sein, die im allgemein als sozial schädlich betrachtet werden, wie zum Beispiel Egoismus, hohe Aggression oder Gewalt. Aber wie C.G. Jung einmal sagte, 90 Prozent unseres Schattens ist pures Gold. Wo immer wir beispielsweise einen Menschen sehr stark bewundern oder verehren, hat das mit unserem Schatten zu tun, unseren ungelebten Möglichkeiten. Das ist deshalb so, weil wir beim Erwachsen werden sehr viel Energie darauf verwenden, uns anzupassen und dabei geschieht es, dass wir die weniger „praktischen“ Persönlichkeitseigenschaften zur Seite schieben und in den Schatten – also unser Unbewusstes, noch genauer unser persönliches Unbewusstes – verbannen. Nehmen wir zum Beispiel an, in einer Familie hätten alle etwas mit Buchhaltung, Rechnungswesen oder allgemeiner mit Wirtschaft zu tun, dann wäre zu erwarten, dass poetische Neigungen, musische Interessen, Kreativität und Phantasie in dieser Familie ausdrücklich oder implizit entwertet werden. Sätze wie: „Kind, lern´ etwas Anständiges!“, „Was willst du denn bitte mit einem Theaterwissenschafts-Studium?“, „Verbring nicht so viel Zeit mit unnötigen Dingen!“, prägen sich uns tief ein und führen dazu, dass wir uns auf jene Eigenschaften konzentrieren, die von Lehrern, Eltern, Ausbildern, Verwandten, etc. gut geheißen werden. Dass wir als 16-jährige wunderschöne Gedichte schrieben, haben wir irgendwann in unseren 30-ern schon gänzlich vergessen. Schließlich treffen wir einen Menschen, der gerade ein Buch schreibt oder Musiker ist und wir bewundern ihn über alle Maßen. So kreativ, so begabt, so phantasievoll wie dieser Mensch ist, das imponiert uns. Uns selbst hingegen halten wir für einen phantasielosen, pragmatischen Buchhalter, in dessen Leben nie etwas Aufregendes passiert. Wir meinen auch, dass wir niemals so kreativ und phantasiebegabt sein könnten, wie dieser wunderbare Mensch. In der Terminologie des Jungianers Robert A. Johnson projizieren wir unser inneres Gold auf diesen Menschen. Also jene positiven Persönlichkeitsanteile, die sich in unserem Schatten befinden und die wir noch nicht verwirklicht haben. Wir müssen dieses Gold auf jemand anderen projizieren, weil wir noch nicht in der Lage sind, es selbst zu tragen. In manchen Fällen geschieht so etwas auch in der Therapie, dass eine neue Klientin*) ihre Therapeutin über die Maßen bewundert. Auch hier hat das viel mehr mit den Eigenschaften zu tun, die bei der Klientin noch im Schatten liegen, als mit der tatsächlichen Genialität der Therapeutin. Therapeuten sind nämlich, enttäuschender Weise, auch nur ganz normale Menschen ;-) Wenn sich der Mensch schließlich weiter entwickelt, entdeckt er zunehmend mehr ungelebte Persönlichkeitsanteile und integriert sie in sein Wesen. Die Jungianer nennen diesen Prozess Individuation. In der Gestalttherapie, die von einigen Autoren als die praktische(re) Umsetzung der Jungschen Theorie betrachtet wird (z.B. Bob Resnick oder Ken Wilber) nennen wir diesen Prozess Integration. Auch der Begriff der Polaritäten ist in diesem Zusammenhang wichtig. In der Gestalttherapie wird davon ausgegangen, dass sich alle Phänomene des Lebendigen in polarer Weise entfalten. Häufig geschieht es aber in unserer Entwicklung, dass wir uns mit einem Pol stärker identifizieren. So nehmen wir uns beispielsweise eher als sachlich, eigenständig und karriereorientiert wahr. Die anderen Pole Kreativität, Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Familiensinn blenden wir aus bzw. vermögen wir gar nicht mehr an uns wahrzunehmen. Je mehr wir nun in einer Therapie in der Lage sind, auch die anderen Pole an uns zu erkennen und zu leben (also zu integrieren), desto mehr können wir das nach außen projizierte Gold wieder an uns nehmen. Und im gleichen Maße wird der vormals so bewunderte Mensch uns weniger strahlend und großartig erscheinen als zuvor. Wir sind jetzt in der Lage, ihn mehr so zu sehen, wie er tatsächlich ist. Um das Gold zu bergen, das in unserem eigenen Schatten liegt, gibt es zwei hilfreiche Selbsterforschungsfragen:
• Welchen Menschen bewundern oder verehren Sie? Wegen welcher Fähigkeiten oder Verhaltensweisen? Es ist sinnvoll, sich diese Fragen sowohl für unser Privatleben als auch für unser professionelles Leben zu stellen. Der Lohn dieser Mühe ist eine immer tiefere Erkenntnis dessen, was alles in uns verborgen ist, das Wachstum unserer Persönlichkeit und eine sehr viel realistischere Einschätzung unserer Mitmenschen. Und nicht zuletzt gewinnen wir mit diesem Integrationsprozess auch Energie zurück, die wir vormals für die Abwehr der Schattenanteile gebraucht hatten. --- *) Gemeint sind immer Männer und Frauen. #Schatten #Projektion #Gestalttherapie #Polaritäten ![]() Quelle: Johnson, Robert A. (2013). Das Gold im Schatten. Impulse für die seelische Ganzwerdung. Peter Hammer Verlag. |
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