Roswitha Riepl
Im weiten Feld der Aufstellungen bietet die Aufstellungsarbeit nach Moreno eine wissenschaftlich fundierte Alternative, die über eine sehr lange Tradition sowohl in der Psychotherapie als auch in der Organisationsberatung verfügt. Durch den Einsatz vielfältiger psychodramatischer Techniken kann dieses Interventionsverfahren noch wirksamer gemacht werden. Dabei wird auf die kreativen Potentiale aller am Prozess Beteiligten zur Selbstbestimmung gesetzt, statt auf Einfügung in vorgesetzte Ordnungen (Buer, 2003). Die Anliegen und der Schutz der/des ProtagonistIn stehen dabei im Mittelpunkt des Geschehens .
Die theoretische Vermittlung und praktische Darstellung dieses Ansatzes war Inhalt des fünfstündigen Prä-Workshops am bestnet-Kongress in Linz. 30 TeilnehmerInnen aus verschiedenen Disziplinen trugen zu einer spannenden Auseinandersetzung bei. Der inhaltliche Ablauf wird hier zusammengefasst wiedergegeben.
1916: Aktionssoziometrie in einem Flüchtlingslager
Jakob Levy Moreno (1889 – 1975), der Begründer von Psychodrama und Soziometrie, führte erste Formen der Aufstellungsarbeit bereits 1916 durch. Zu diesem Zeitpunkt war er als Lagerarzt in Mittendorf, südlich von Wien, tätig. Die schlechten Lebensbedingungen im Lager verdichteten das Elend der mehreren tausend Menschen, die hier zwangsweise untergebracht waren. Der österreichisch-ungarische Innenminister erlaubte Moreno eine soziometrische Neuordnung der Lager-Gemeinschaft, mit dem Ziel das Fundament der Gemeinschaft zu verbessern.
Aufgrund der Annahme, dass die Familien dazu neigten sich gegenseitig zu helfen, wenn die Leute mit denjenigen zusammenleben konnten, von denen sie sich auf positive Weise angezogen fühlten, ließ Moreno die Familien auf der Grundlage gegenseitiger Zuneigung umziehen. - Das aktionssoziometrische Experiment gelang! Die eingeengte Lebensqualität der Menschen verbesserte sich – wenn natürlich in bescheidenen Ausmaß.
Soziometrische Neuordnungen der gleichen Art führte Moreno daraufhin auch in den Arbeitsgruppen der Fabrik durch welche dem Lagern angeschlossen war und erzielte auch hier eine Förderung von Zufriedenheit am Arbeitsplatz und Produktivität.
Aktuelle Weiterentwicklungen
Fast 100 Jahre sind vergangen, seitdem Moreno diese existenziellen Fragestellungen mit aufstellungsähnlichen Aktionen durchführte. Von diesem Zeitpunkt an hat sich im Psychodrama und der Soziometrie auch für die Aufstellungsarbeit eine umfangreiche Praxeologie und ein fundiertes wissenschaftliches Theoriegebäude entwickelt.
Für den Bereich der Aufstellungsarbeit in Organisationen hat Prof. Dr. Ferdinand Buer seinen „klassischen Ansatz nach Moreno“ ausgearbeitet (Buer, 2003 und 2005). Für die Psychotherapie hat Dr. med. Reinhard Krüger - nach einer schriftlichen Mitteilung von Buer - eine klare Unterscheidung zwischen der Rekonstruktion einer konkreten Erinnerung durch die szenische Arbeit von der symbolisierenden Neu-Konstruktion in der psychodramatischen Aufstellungsarbeit unterschieden (Krüger, 2005).
Mit dem Ziel Behandlung und Beratung nicht zu vermischen leite ich in Österreich ein ÖAGG-zertifiziertes Aufstellungs-Weiterbildungsangebot für PsychotherapeutInnen bzw. für BeraterInnen. Um auf die unterschiedlichen Anforderungen dieser beiden Berufsgruppen an die Aufstellungsarbeit einzugehen, werden in klar voneinander abgegrenzten Curriculas spezifische Lehrgänge angeboten.
Diese Unterscheidungen erachte ich für notwendig, da Familiensysteme anderen Schichten von soziologischen, gesellschaftspolitischen, tiefenkulturellen und psychologischen Dynamiken unterworfen sind als Organisationssysteme. Diese Unterschiede finden in der psychodramatischen und soziometrischen Aufstellungsarbeit klaren Niederschlag.
Die ausdifferenzierten Aufstellungsformen im Verfahren Psychodrama
Bei einer Familien-Aufstellung gibt es mehr Informationen über die Rollen von „Vater“, „Mutter“, „Geschwistern“, „Grosseltern“ usw. und es kommt auch mehr zu einer mimischen, gestischen Ausgestaltung der gewählten Position. Daher spreche ich hier von der Psychodramatischen Familienaufstellung. Es kann während der Aufstellung zu kurzen szenischen Verdichtungen kommen, ohne dass die Aufstellung abgebaut wird. Es können sich z. B. Dialoge zwischen den einzelnen Hilfs-Ichen (RepräsentantInnen) aufgrund der Informationen über die Rollen freier entwickeln. Es kann aber auch die Aufstellung abgebaut und ein Szene eingerichtet werden. Hier können erste Erkenntnisse aus der Aufstellung auf ihre Realitätstauglichkeit hin überprüft werden, indem der/die ProtagonistIn (ThementrägerIn) z. B. ein Gespräch im Kreise der Familie am Sonntag-Mittagstisch einrichtet. Ein Probehandeln wird so möglich und die Veränderungsideen auf ihre Umsetzung getestet. Danach kann – mit neuen Erkenntnissen aus der szenischen Arbeit - die Aufstellung durchaus wieder aufgebaut und in dieser weitergearbeitet werden.
Im Gegensatz dazu findet die Organisations- oder Teamaufstellung in sehr reduzierter Form statt – diese bezeichne ich als Soziometrische Organisationsaufstellung. Sie bezieht sich in sachlich-funktionaler Weise auf die benannten Arbeitsrollen – und schützt somit den arbeitenden Menschen vor übermäßiger Psychologisierung. Die unterschwellig zwischenmenschlichen Strömungen werden über die Nähe-Distanz-Verhältnisse mit sichtbar. Inwieweit diese aber auch thematisiert werden, entscheidet das Team in einem vorangegangenen Klärungsprozess selbst. Dazu habe ich eine Übung entwickelt, welche ich vor der Aufstellung mit allen an der Aufstellung Beteiligten durchführe. Auf einem Schlag wird sichtbar, welche Schicht der Organisations- oder Teamdynamik zu diesem Zeitpunkt in der Aufstellung untersucht werden sollte bzw. untersucht werden kann. Laut Moreno dient die Soziometrie der wechselseitigen Offenlegung der informellen Tiefenstruktur einer Gruppe, damit diese Anstösse für eine sinnvolle Veränderung finden kann. Diesen Ansatz habe ich auf ein Modell für organisationsinterne Teamaufstellungen übertragen, an dem alle MitarbeiterInnen (plus Leitung) ihre Sicht auf die Arbeitssituation gemeinsam in einem behutsamen Aufstellungsprozess umsetzen. Das Wesentliche daran: dabei wird nicht die Sicht einer Person aufgestellt, sondern die gemeinsame Sicht auf jede einzelne Position drückt sich im Aufstellungsbild aus.
Mit den ExpertInnen für internationale Konfliktberatung, Ms Gudrun Kramer und Dr. Wilfried Graf vom „Institute for Integrative Conflict Transformation and Peacebuilding“ (iicp) entwickle ich fortlaufend unterschiedliche Aufstellungs-Settings für politische, soziale und interkulturelle Konfliktfelder. Da es bei diesen Arrangements nicht das Nähe-Distanz-Verhältnis von Einzelpersonen, sondern vielmehr jenes von gesellschaftliche Gruppen untersucht wird, sprechen wir hier von der Soziodramatischen Aufstellung. Ein Beispiel dafür war am Sonntag, 9. März 2008, im österreichischen Fernsehen im Parlamentsmagazin "Hohes Haus" zu sehen, wo ich mit meinem Konzept gemeinsam mit Psychodrama-KollegInnen* in einer soziodramatischen Politik-Aufstellung die aktuelle Situation der Parteien-Koalition untersucht habe.
Für den „Ortstafel-Konflikt“ in Kärnten habe ich mit Graf und Kramer (iicp) das Konzept der Soziodramatischen Aufstellungsarbeit um die Komponente der Wirkung von tiefenkulturellen Werten erweitert. In unterschiedlichen Gruppen sind wir mit der Soziodramatisch-Axiodramatischen Aufstellung zu interessanten Ergebnissen gekommen. An der Weiterentwicklung dieses Arrangements arbeiten wir laufend.
Meiner Erfahrung nach steckt in jedem Aufstellungsfeld und in allen Hilfs-Ichen nach vollendetem Prozess noch immer implizites Wissen zur Verbesserung der Situation. Um auch dieses für die fragestellende Person oder Gruppe sichtbar, erfahrbar und nutzbar zu machen konzipierte ich die Soziatrische Fragestellung. Ob in einer Familienaufstellung, Organisationsaufstellung oder Soziodramatischen Aufstellung: frei von allen Vorgaben, angewärmt von dem vorangegangenen Prozess, verbunden mit dem tieferen Wissen der übernommenen Rolle oder Position vollziehen alle im Feld stehenden Betroffenen und Beteiligten jenen Impuls, von dem sie ahnen, dass er zur Verbesserung der Gesamtsituation beitragen kann. Weit über die eigenen Wünsche und Bedürfnisse hinaus, geben sie in diesem Moment das ressourcenstärkste Optimum der jeweiligen Gruppe preis.
Was noch kommt ...
Die hier angeführten Begriffe und Definitionen sind Inhalt meiner Masterthese an der Donau Universtiät Krems, an der ich gerade arbeite (Vorläufiger Erscheinungstermin: 2009).
Die von mir konzipierte Weiterbildung „Aufstellungsarbeit & Psychodrama“, die ich in Kooperation mit der Fachsektion Psychodrama, Soziometrie und Rollenspiel im ÖAGG (Österreichischer Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik) durchführe, findet seit 2008 jährlich statt. Sie ist das Ergebnis meiner „Wanderjahre“ durch die österreichische und deutsche Aufstellungswelt. Diese Reise führte mich nach zwei Jahren Familienstellen nach Bert Hellinger (bei Reinhold Wildner) zu Seminaren mit Fritz Simon, Gunthard Weber, Ferdinand Buer, Christine Essen u.a. Bei Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrrer habe ich eine Ausbildung für Organisationsaufstellungen nach dem Ansatz der systemischen Strukturaufstellung gemacht. Viele oft kontroverse Gespräche mit KollegInnen aus verschiedensten Aufstellungsrichtungen fließen in die Weiterbildung ein. Den Hauptteil aber bildet das eigenständige Aufstellungsverfahren nach J. L. Moreno.
GLOSSAR:
Axiodrama: Mit dem Begriff Axiodrama bezeichnet Moreno die handelnde Umsetzung von Werten.
Hilfs-Ich: Bezeichnung für MitspielerInnen (RepräsentantInnen)
ProtagonistIn: Im klassischen Psychodrama bringt ein/e ThementrägerIn, der/die ProtagonistIn, sein/ihr Anliegen ein, das dann von der gesamten Gruppe bearbeitet wird. Der Protagonist spielt sein Spiel aber auch stellvertretend für die Gruppe, da andere Gruppenmitglieder durch Identifikation und Modelllernen von seinem/ihren Spiel profitieren.
Soziodrama: Das Soziodrama ist eine Form der Arbeit auf der Gruppenebene, die die gesellschaftlich-kulturelle Dimension im Erleben und Handeln thematisiert. Das Soziodrama wird unter anderem in der politischen Arbeit eingesetzt, um Stereotype und Vorurteile aufzudecken und zu reflektieren.
Soziometrie: Die Soziometrie ist – neben dem Psychodrama und der Gruppenpsychotherapie – die dritte Säule von Morenos Denksystem. Sie bezweckt die Messung von Gruppenstrukturen, wobei das Ziel nicht allein in der wissenschaftlichen Erkenntnissgewinnung, sondern auch in der Veränderung des diagnostizierten Systems mit dem Ziel eines besseren Zusammenlebens liegt.
Soziatrie: Moreno selbst bezeichnete sich als Soziater – er spricht von der „Soziatrie als Wisschenschaft der Heilung sozialer Systeme“ (Moreno, 1996, S. 385). Moreno spricht davon, dass ein wirklich therapeutisches Verfahren nichts weniger als die gesamte Menschheit zum Objekt haben darf (Moreno 1996, Einleitungssatz).
Quelle für das Glossar:
Psychodrama. F. von Ameln, R. Gerstman, J. Kramer (Hgg). Springer, 2004.
LITERATUR:
Buer, F. (2003): Aufstellungsarbeit in Organisationen – der klassische Ansatz nach Moreno. Zeitschrift Supervision 2/2003, Seite 42 – 54
Buer, F. (2005): Aufstellungsarbeit nach Moreno in Formaten der Personalarbeit. ZPS-Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie 2/2005, Seite 285–310
Buer, F. (2007a): Dilemmaaufstellungen in der Gruppensupervision mit GewerkschaftssekretärInnen. In: Ameln F v, Kramer J (Hgg): Organisationen in Bewegung bringen. Heidelberg: Springer. Seite 257–260
Krüger, R. (2005): Szenenaufbau und Aufstellungsarbeit. ZPS - Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie 2/2005, Seite 249–274
Moreno, J.L (1996): Die Grundlagen der Soziometrie. Wege zur Neuordnung der Gesellschaft (4. Auflage). Berlin: Leske & Budrich
ROSWITHA RIEPL
Lehrtherapeutin für Psychodrama, Soziometrie und Rollenspiel im ÖAGG. Supervisorin und Wirtschaftscoach. Leiterin der Weiterbildung „Aufstellungsarbeit & Psychodrama“ (ÖAGG). Freie Praxis in Wien.
Halbgasse 25/2/5
A-1070 Wien
Tel: 0043 (0) 676 – 328 44 00
www.roswitha-riepl.at
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